zondag 4 augustus 2013

Oidtweiler Mädchen in Holland - Gertrud Herten (1899-1976) - Unser Vater sagte: "Kopf hoch, wenn es auch schwerfällt!"



Traudchen (Maria Gertrud) Herten wurde am 22. März 1899 in Oidtweiler geboren als
Tochter von Mathias Herten (*Dortmund 23. April 1865, †Oidtweiler 18. März 1939) und
Karolina Kahlen (*Oidtweiler 16. Mai 1869, †Broichweiden 30. März 1948). Traudchen
war das vierte Kind in einer Familie von elf, von denen drei nicht erwachsen geworden sind
und zwei im 2. Weltkrieg gefallen sind. Ihre Geschwister sind: Maria (1893-1979), Franz
(1894-1944), August (1896-1977), Michael (1901-1957), Katharina (1902-1971), Therese
(1905-1924), Friedrich (1907-1945), Werner (1909-1980), Joseph (1910-1930) und
Karoline (*†1913). Traudchens Vater war Bergarbeiter, wie fünf ihrer Brüder, ihr Mann
und all ihre Söhne und Schwiegersöhne. Traudchen heiratete am 17. Oktober 1924 in
Eijgelshoven (jetzt Kerkrade) den Govert Schoormans (*Küpperste, Ruhrgebiet, 7. Juli
1896) und wurde damit Niederländerin; die Ehe wurde am nächsten Tag kirchlich
eingesegnet. Traudchen und Govert kriegten acht Kinder: Maria (1925-1988), Mathias
(1927-2010), Caroline (1929-2000), Adriaan (*1930), Frans (*1931-1999), Pieter
(1933- 1992), Jozef (*1937) und Paul (*1941). Traudchen starb am 22. März 1976 in
Kerkrade, dreissig Tage nach ihrem Mann, der gefällt war als sie ins Spital geraten war.
Beide teilen (bis 2066) ein Grab auf dem Friedhof in Eijgelshoven.



Starke, gläubige Frau
Traudchen Schoormans-Herten, meine Oma, war eine starke Frau,
die es sich nicht anmerken liess wenn ihr etwas fehlte. “Ich fange
jetzt ein neues Leben an”, sagte sie nach dem Tode meines Opas,
wessen körperlicher und geistiger Verfall viel von ihr gefordert
hatte. Wenige Tage später hatte auch sie eine Gehirnblutung und
geriet sie in ihr Sterbebett. “Herrgott, nimm ihn nur!”, hatte sie
kurz zuvor an dem ihres 'Josepf's gebetet.
Es kennzeichnete Oma. Opa, auf dem sie doch regelmässig
gemurrt hatte, muss ihr sehr teuer gewesen sein. Oma hatte jedoch
einen felsenfesten Glauben. Über'm Sofa im Wohnzimmer hing
die Bildgeschichte der heiligen Agnes. Die hatte zur römischen
Zeit wunderliche Märter durchstanden nachdem sie die Hand
angesehener junger Männer geweigert hatte. Sie war verlobt mit
Christus, hätte sie erklärt.
Auch Oma scheint in einer Art von Familienverhältnis zu
Himmelbewohnern gestanden zu haben. In einer Zeit in der dem
kleinen Bürger keinen Tross Sozialarbeiter zur Verfüging standen,
in der man weniger Rechte hatte und man weniger versichert war
gegen Missgeschick, lag es nahe, sich um Hilfe oder Schutz zu
einem Heiligen zu wenden. Jeder Heilige hatte ein 'Fachgebiet'.
Die heilige Apollonia zum Beispiel konnte angerufen werden bei
Kopfschmerzen oder Zahnschmerzen. Blasius behütete vor
Halsschmerzen. Selber war der Heilige enthauptet. In seinem
Kerker eingesperrt, hatte er einen Buben gerettet der in einer
Fischgräte zu ersticken drohte. Für wen seinen Schlüssel verloren
hatte, stand Sankt Antonius parat. Maria, die Jesus hatte leiden
sehen, wusste was eine Mutter zu durchstehen hatte. Auch der
einfache Sterbliche durfte sie 'Mutter' nennen. Wenn Oma nach
Deutschland ging, besuchte sie entweder Familie oder Maria-
Wallfahrtsort Kevelaer. Vom letzteren brachte sie für wen ihr lieb
waren Bildchen, Medaillen, Rosenkränze und Kerzen mit.
Ihr Glauben war für Oma eine Selbstverständlichkeit woraus
sie Kraft schöpfte. Theoretisch wird ihr Glauben kaum unterbaut
gewesen sein; sie wird sich wohl nie in die Bibel vertieft haben.
Katholiken taten das auch nicht. Oma ging wohl jede Woche zur
Kirche. Es verdross ihr, dass ihr Mann nur an hohen Festtagen ging.
Und sie hatte gar kein Verständnis dafür, dass jemand der von Haus
aus katholisch war seinen Heil suchte in einer anderen Religion.
Starr scheint Oma jedoch nicht gewesen zu sein. Als Mitte
sechziger Jahre eine Anzahl von Heiligen abgeschafft wurde, gab
sie ihren Enkelkindern Gips Heiligenbilder um sie zu Kreide zu
brechen, obwohl diese Bilder jahrelang einen Ehrenplatz in ihrer
Wohnung gehabt hatten. Mit dem Kreide malten sie Hüpfbalken
auf der Strassendecke worauf Oma Figuren aus Blumenblättlein
machte wenn die Prozession durch das Dorf zog. Wenn der Pfarrer
bemerkte dass einige Strassen wohl séhr schön verziert worden
waren, strahlte Oma vor Zufriedenheit.
Es ist schwierig, Oma 37 Jahre nach ihrem Dahinscheiden
noch zu ergründen. Ich stand in einem recht guten Verhältnis zu
ihr, war aber noch nicht zwanzig als sie starb. Lange zuvor war ich
bei ihr zu Besuch, als ich sie wiederholt sagen hörte: “De welt jeet
tse ende!” (Oma sprach und schrieb eine Mischung von,
hauptsächlich, Hochdeutsch und Platt und, in minderem Masse,
Niederländisch. Sie schrieb ausschliesslich Sütterlin, wobei ein
Wort wie 'für' über dem Dialekt 'vuur' oder dem niederländischen
'voor' geschrieben wurde als 'vür'. Nur eines ihrer Kinder konnte
es lesen.)
“Die Welt geht zu Ende!” Was war los, fragte ich mich. Hatte
Oma vielleicht einen Jehovas Zeugen gehört? In diesem Kreise
wurde regelmässig verkündet dass es nun wirklich rasch zu Ende
lief für die sündige Welt. Die Antwort war nur mit Mühe aus Oma
heraus zu kriegen. Oma hatte vom Fernseher begriffen dass es
Frauen gab die sich um Geld..... Oma wagte kaum es zu benennen.
Omas Welt war nicht sehr gross. Der grösste Abstand, den sie
gereist hat, ist hundert oder zweihundert Kilometer gewesen. Ihr
Leben spielte sich, abgesehen von einigen Ausflüge, ab innerhalb
von zirka zehn Kilometer. Ein Fernsehgerät kam erst Ende 1964
ins Haus; es bot abends und am Wochenende drei Sender. Aber
war Oma wirklich so naiv? Meine Mutter, der ich gleich vom
Vorfall erzählte, konnte es sich nicht vorstellen. Oma und Opa
haben jahrelang Karten erhalten von einem angeheirateten
Verwandten der nach Amerika ausgewandert war und es dort
geschafft hatte. Er ging durch's Leben mit einem schwarzen Mann,
was nicht ganz normal gewesen sein kann. Ich habe Oma nie
anders als positiv über beide gehört, ihre Karten wurden stolz
gezeigt. Hat Oma sich wirklich nichts bei derer Freundschaft
gedacht? Hat sie sich nichts dabei denken wollen? Oder hat sie
gedacht: es sind freundliche Kerle – lass' den lieben Herrgott
selber urteilen!




Dienstmädchen bei Herrschaften
Oma war keine dumme Frau. Sie hatte einen Schatz an
Lebenserfahrung und verfügte, ausser über bemerkenswerte
haushaltliche und bäuerliche Geschicklichkeiten, über die nötige
Kreativität. Viel mehr wie Basisunterricht wird sie nicht erhalten
haben und als sie etwa vierzehn war, wird sie ausserhalb ihres
Elternhauses zu arbeiten angefangen haben. Zu der Zeit war das
nun mal so, sicherlich für eine Arbeitertochter. Für so ein
Mädchen wurde eine Dienststelle gesucht, wobei es bei fremden
Leuten einzog, denen es für einen Apfel und ein Ei Tag und Nacht
zur Verfügung stand. Ihre Mutter und Grossmütter waren ihr darin
vorangegangen, ihre Töchter würden ihr nach Erwarten folgen.
Die elterliche Familie hatte so einen Mund weniger zu ernähren.
Das Mädchen lernte was sich für sie als Ehefrau und Mutter als
nützlich erweisen würde. Dass sie nämlich – mit einem Bisschen
Glück – heiraten würde und sich dann ausschliesslich ihrer
(Arbeiter)familie widmen würde, entsprach den Erwartungen. Es
gab nicht viel zum Wählen, auch nicht für Arbeitersöhne.
Traudchen hat an verschiedenen Stellen gearbeitet, unter anderem
bei Bauern. Postkarten von ihrem Bruder August bezeugen, dass
Traudchen zu mindest von Oktober 1915 bis Juni 1918 in
Setterich (Kreis Jülich) wohnte. Ihre Mutter erwähnte viele Jahre
später in einem Brief Prümmern als Ort wo ihre Tochter
eingewohnt hatte.
Ein Wort das Oma im hohen Alter noch regelmässig aussprach, war
'Herrschaften', wohl oder nicht vorangegangen vom bestimmten
Artikel 'die'. 'Herrschaft' heisst sowohl 'Führung' oder 'Macht', wie
'Herr oder Frau des Hauses'. Aus Omas Mund klang es indertat als
eine höhere Macht, die eine Naturgegebenheit war wie der
Wechsel der Jahreszeiten oder ein Gewitter, und wogegen man
sich genauso gut oder schlecht waffnen konnte. Oma sprach von
den Herrschaften mit einer Mischung von Ehrfurcht und
kindlicher Liebe. Protest gegen ungerechte Strukturen spürte ich
nicht darin. Es gab natürlich Herrschaften bei denen man besser
nicht verweilen konnte – die einen, zum Beispiel, all zu sehr
ausbeuteten oder erniedrigten – aber dann versuchte man einfach
von Herrschaft zu ändern. Ein anständiges Mädchen arbeitete nun
mal in einer Dienststelle, nicht in einer Fabrik.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat Traudchen die Grenze
überquert um sich in den Niederlanden an die Arbeit zu machen,
wahrscheinlich bei einer Familie von Ladenbesitzern. Physisch
war es kein grosser Schritt: Traudchen war geboren und
aufgewachsen in der Grenzregion. Und Landesgrenzen bildeten
keine unüberwindliche Barrieren. Psychisch wird der übergang
ebenfalls nicht sehr schlimm gewesen sein. Die Provinz Limburg
war in übergrosser Mehrheit katholisch – genauso wie das
anliegende Deutschland – und in Kerkrade/Eijgelshoven wurde
ein Dialekt gesprochen der dem Deutsch sehr verwandt ist. Jetzt
noch kann man sich in einer Stadt wie Köln oder Aachen behelfen
mit dem 'Kirchröadsjer plat'. Die sich entwickelnde Bergbauregion
zog ausserdem Arbeiter aus vielen Ländern an. Es lebten dort viel
Deutschen und Österreicher, es lebten dort auch viel Polen,
Slowenen und Tschechen, mit oder ohne Familie. Traudchen war
also keine fremde Ente im Loch.
Traudchens Auswahl war keine verkehrte. In 1923 wurde
Deutschland, das für seine Niederlage im 1. Weltkrieg schwer
bestraft worden war, getroffen von einer Geldentwertung
unvorstellbaren Ausmasses. Preise von Nahrungsmitteln, sogar
Briefmarken, wurden ausgedrückt in Millionen und Milliarden
deutsche Marken. Wer Ersparnisse hatte, verlor alles. Ruhegehälter
und dergleiche bedeuteten nichts mehr. Man erzählt sich
dass Leute ihr Wohnzimmer tapezierten mit.....Banknoten. Oma
erzählte wie eine Frau einem ihrer Söhne die Überraschung seines
Lebens besorgt hatte. Sie war mit seinen Ersparnissen –
wahrscheinlich wertvolle, denn aus Edelmetall – in eine Bank
gegangen und hatte eine Riesenmenge deutsches Papiergeld dafür
bekommen. Der Kassierer hatte das Geld nicht einmal gezählt: er
hatte eine Schublade Banknoten in ihre Schürze ergossen. Omas
deutsche Herrschaften wurden schwer traumatisiert. Ein gewisser
Adolf Hitler lief sich schon warm um sie in eine neue Zukunft
hinein zu führen. Traudchens Zukunft lag in den Niederlanden.
Als Dienstmädchen verdiente sie dort zwar nicht viel, aber es war
in harten niederländischen Gulden.



Govert wird Josef
Eines Tages begegnete Traudchen einem der sich überdurchschnittlich
in sie interessiert zeigte. Es geschah in Eijgelshoven,
einem Grenzdorf von zweieinhalb Tausend Einwohnern, das sich
wie der Blitz entwickelte von einer Bauerngemeinschaft in eine
Gemeinschaft von überwiegend Bergarbeitern. Ähnlich also wie
Oidtweiler/Baesweiler.
Traudchen war mit einer Freundin zur Kirmes gegangen und
traf da einen jungen Holländer, der sich im Dorf vielleicht mehr
Ausländer fühlte wie die junge Deutsche, die die Einheimischen
mühelos verstand. Govert Schoormans hiess er. Er verkehrte in
Geselschaft seines Bruders. Beide waren in Deutschland geboren;
ihre Eltern hatten hin und her gewandert zwischen dem
Ruhrgebiet (wo sie arbeiteten) und ihrem Heimatdorf in der
niederländischen Provinz Noord-Brabant. Nach dem frühzeitigen
Tode ihrer Mutter waren sie in ihrem Heimatdorf von einer
Grossmutter erzogen worden, während ihr Vater mit seiner neuen
Frau – und neuen Kindern – sein herkömmliches Leben weitergeführt
hatte bis der 1. Weltkrieg ein Ende daran bereitet hatte.
Inzwischen waren die beiden Jungen alt genug geworden um
dorthin zu ziehen wo immer es Arbeit gab. Schliesslich hatte die
Familie sich wiedervereinigt in Eijgelshoven, wo eine neue Kirche
und eine zweite Zeche gebaut wurden.
Kirmes war in einer Zeit in der sonst wenig los war ein grosses
Ereignis. Ein seltsames Ereignis, ausserdem, wobei Junggesellen
sich einigermassen unbeschwert treffen konnten. Beide Brüder
hätten ein Auge auf Traudchen geworfen; der Älteste würde sie
erobern. Seine Namen waren für eine Deutsche ungewöhn; sie
waren auch schwierig aus zu sprechen. Aus 'Govert' liess sich aber
'Josef' machen – damit war gleich in einem viel gefeierten
Namenstage abgeholfen: 19. März.
Wenn Govert seriös war, durfte er Traudchens Josef werden.
Govert méínte es. Auf einer Karte mit dem Bild eines verliebten
Paares, worauf er, ausser Traudchens Name und Adresse, nur
“Absender Jozefes Schoormans” schrieb, gratulierte er ihr zu,
wahrscheinlich, ihrem Geburtstag. (Ihr Geburtstag und ihr
Namenstag waren nur drei Tage auseinander.) Am 18. Oktober
1924 gaben sie einander das Jawort in der Kirche die der
Bräutigam hatte helfen bauen.
Traudchen war eine hübsche Frau. Ein stark beigefärbtes
Portret zeigt sie in der Zeit worin sie an ihr Leben mit Govert
begann. Auch der konnte sich sehen lassen. Alte Portrets bezeugen
es: Govert konnte, wenn er wollte, ein würdiger Herr sein. Selber
habe ich ihn nicht oft gut gekleidet erlebt; er machte sich nichts
daraus. Oma dagegen machte sich schön. Sie hatte sehr lange
Haare, die sie sorgfältig kämmte und ingeniös zu einem
Haarknoten flechtete. Es war ein Genuss, sie dabei zu beobachten.
Omas und Opas Haare wurden an einem gewissen Zeitpunkt zu
dünn. Meine Mutter meinte dass das war weil sie es färbten mit
Rost von ihrem Herd.



Hopel, Klein Vereinte Nationen
Govert und Traudchen hatten ein knappes Auskommen. Govert
verdiente als oberirdischer Bergarbeiter einen kargen Lohn und
eine verheiratete Frau verlegte sich auf ihren eigenen Haushalt.
Die junge Familie wohnte anfänglich über einer Kneipe in
Nieuwenhagen (jetzt Landgraaf), ein Nachbardorf. Nach der
Geburt des zweiten Kindes bezog es ein Lehmhäuschen in
Eijgelshoven. Die Milch erfror dort in der Küche. Es wurden da
ein Mädchen und ein Junge geboren. Daraufhin ging's nach dem
benachbarten Hopel. Die Familie zog dort in eine Wohnung in der
weissen Bergarbeiterkolonie 'vor den Toren' – auf niederländisch:
'unter dem Rauch' – der Laura, eine Kohlenzeche in der alle
Männer und angeheiratete Männer der Familie arbeiten würden. In
diesem 'grosselterlichen Haus' kamen noch drei Söhne zur Welt.
(Ein weiterer erblickte in einem Spital das Lebenslicht.) Govert
und Traudchen lebten hier mehr als vierzig Jahre, bis sie im Januar
1975 in ein Pflegeheim zogen.

Hopel war ein zurückgesetzter, entlegener Winkel der Gemeinde
Kerkrade. Das Viertel war nahezu völlig orientiert auf die
Gemeinde Eijgelshoven, an der es grenzte. Die Strassen waren
nicht asphaltiert, sie hatten nicht einmal einen Namen: bis 1938
hiess alles Hopelerweg. Es gab keine Kanalisierung und die
Einwohner mussten sich lange Zeit ihr Wasser an der Dorfpumpe
holen. Strom gab es bis 1938 ebenso wenig; man musste
auskommen mit Petroleumlampen.
Die 'weisse Kolonie' bildete einen beträchtligen Teil der
Hopel. Sie war zwischen 1907 en 1910 gebaut worden im
Auftrage der Laura en Vereeniging, ein belgisches Bergbauunternehmen
das stark im Kommen war und um Arbeiterwohnungen
verlegen war. Die geräumig angelegte 'weisse Kolonie'
zählte schliesslich 46 Wohnungen und mutete nicht-niederländisch
an. Sie war dann auch in erster Instanz entworfen worden von
einem deutschen Architekten (A. Reichpietsch). Sein Entwurf
zeugte von gutem Geschmack; die Wohnungen waren, sicher für
die Zeit, ausgezeichnet. Sie hatten alle einen grossen Garten. Zur
Zeit das die Familie Schoormans-Herten sich da niederliess, zählte
Hopel etwa hundertdreissig Häuser mit in Total etwa sechshundert
Bewohnern. Ganz Kerkrade hatte gut 38 Tausend Einwohner,
Eijgelshoven hatte viertausend.
Die Familie Schoormans-Herten wohnte auf Nummer 77,
natürlich am Hopelerweg. Nachher wurde die Adresse geändert in
Merelstraat (Amselstrasse) 7. Das Haus stand an der Ecke der
Meesstraat (Meisestrasse). – Die Strassen hatten fast alle
Vogelname. – Die familie Schoormans-Herten lebte, als die
Familie komplett war, zu zehnt in dem Hause. Die sechs Jungen
schliefen in einem Zimmer. Ihre Eltern teilten ein anderes;
dahinten war ein Zimmerchen für die beiden Mädchen. Unten
hatte die Familie ein wenig benutztes Vorzimmer (für besondere
Gelegenheiten), ein geräumiges Wohnzimmer und eine nicht sehr
grosse Küche mit einem grossen Kohlenherd. Warmes Wasser aus
dem Wasserhahn gab es nicht; das habe ich selber in den sechziger
Jahren erscheinen sehen – für Opa und Oma war es ein grosser
Luxus. Eine Dusche gab es ebenso wenig; man wusch sich einmal
in der Woche in einer Wanne (die Männer wuschen sich nach der
Arbeit auf der Zeche). Ein Klo war da – “aber ohne Abfuhr”,
erzählt Onkel Adriaan. “Es war ein Loch mit darüber ein Brett und
ein Deckel. Das Loch hatte eine Tiefe von etwa anderthalb Meter.
Wir leerten es jedes halbes Jahr mit einem Eimer.” Der Inhalt
wurde im Garten, wo Gemüse wie Porree, Weisskohl, Rotkohl und
Brechbonen angepflanzt wurden, ausgegossen.


Hopel bildete eine internationale Gemeinschaft von Jongkinds,
Pihlers, Schnitzlers, Zupancics, Hocevars, Schillings, Kostrzewas,
Palstras, Stanislauskys, Mestriners, Knešacs, Piegzas, Sznapkas,
Kontes und Vredevelds. Der Eijgelshovener Friedhof und die
Sterbebildchen-sammlung meines Vaters zeigen sie in vielerlei
Kombinationen, denn sie ekelten sich nicht vor einander. Sie
kamen aus allen Windrichtungen. Sogar von manch einem der sich
mit einem niederländischen Namen schmückte und der als
Niederländer geboren war, hatte die Wiege im deutschen
Ruhrgebiet gestanden; mein Grossvater war darin nicht der
Einzige.
Wie das kam? Das Ruhrgebiet hatte seit etwa 1870 einen
riesigen Aufschwung erlebt. Es hatte tüchtig industrialisiert und
hatte von überall her Arbeitskräfte herangezogen. Die hatten sich
um so einfacher bewogen, weil ihre Heimat oft wenig zu bieten
hatte und ihr Vaterland zu, unter anderem, Preussen oder
Österreich gehörte. Polen, zum Beispiel, gab es zwischen 1795
und 1918 nicht als selbstständiger Staat. So waren viel Polen,
Tschechen, Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben – also Slawen –
und Niederländer in den Westen Deutschlands geraten. Der
(weitere) Gang über die Grenze war danach für viele kein allzu
grosser Schritt gewesen, denn es war in den südlimburgischen
Zechen reichlich Arbeit gekommen wofür mancher Alteingesessener
sich nicht hergab und die Erfahrung entbehrte.
Die erste Generation Ausländer – viele wurden in Zeiten von
Krise aus dem Lande ausgewiesen – sprach oft am Ende ihres
Lebens noch nich gut Niederländisch, kerkrader oder eijgelshovener
Platt, oder Deutsch. Sie wussten jedoch dass sie Viertelgenossen
und Kollegen waren und dass sie gemeinsam das Beste
daraus zu machen hatten. “Wir, Slawen, konnten uns mit eineinder
unterhalten. Dadurch habe ich nicht so gut Niederländisch
erlernt”, vertraute der Bosnier Stefan Petresin mir in 1997 an.
“Meine tschechische Mutter und ihre polnische Nachbarin
verstanden einander”, erzählte mir eine Bekannte die mit einem
Niederländer verheiratet war in 2010. Ich bezweifele ob meine
Grossmutter Traudchen, die acht Niederländer gebärte, ein
Gespräch führen konnte mit einem der ausschliesslich
niederländisch verstehen konnte oder wollte. Mein Vater, ihr
ältester Sohn, hat dann auch nie verstanden, dass einer verurteilt
werden konnte bloss weil seine Wiege in einem fernen Ausland
gestanden hatte, weil er die Landessprache nicht beherrschte, oder
weil seine religiöse Überzeugung eine andere war wie die hier
übliche. Ein Mensch war für ihn ein Mensch; er durfte nur danach
beurteilt werden wie er als Mensch und als Mitmensch war.



Betreuerin einer grossen Familie
Mein Vater (in 2002): “Mia ist von 1925, Piet von 1933. Oma
kriegte also in Zeit von acht Jahre sechs Kinder; das muss eine
beträchtliche Aufgabe gewesen sein. Opa hat gearbeitet und
gearbeitet. Oma bewahrte manchmal unter der Wäsche in der
Waschmaschine 'gute' Butter auf. Das geschah wenn ein
Schmuggler das Gefühl hatte dass man ihm auf den Fersen blieb.
Oma hat vielleicht etwas dafür bekommen. Es wurde natürlich viel
vor einem verborgen gehalten, aber wir haben trotzdem einiges
gespürt. Als Kind habe ich übrigens nie 'gute' Butter gehabt. Ich
verlange auch jetzt nicht danach.”
Das Betreuen einer grossen Familie war keine geringe
Aufgabe. Meine Kinderaugen sehen Oma immer noch waschen.
Sie hatte im Schuppen einen grossen Kübel, worin Eimer Wasser
gegossen wurden und worin, wenn man den Stecker in die
Steckdose stach und an einem Schalter drehte, etwas das sich
drehte und gegen die Wäsche schlug rechts-links-rechts-links
kurze Bewegungen machte. Das ausspülen geschah unter einem
kalten Wasserhähnchen, das Wasser zum Waschen war auf einem
grossen Kohlenherd erwärmt worden. Nach dem handmässigen
Ausspülen, wanderte die Wäsche zurück in die Waschmachine,
worauf ein Wringer montiert war. Die Wäsche musste da eines
nach dem anderen handmässig durch gedreht werden. Danach
konnte sie aufgehängt werden zum Trocknen, vorzugsweise im
Garten. Dies alles im Sommer und im Winter, wie immer das
Wetter auch war. Wenn die Hausfrau Glück hatte, blies der Wind
nicht gerade aus der Richtung der Zeche oder derer Abfallberg.
Oben erwähntes ist nur ein Beispiel zur Illustrierung. Das
ganze Jahre durch musste Tag und Nacht ein Kohlenherd brennend
gehalten werden um Wasser für Kaffee oder Tee zu kochen, um
Flecken aus der Wäsche zu kochen oder um eine Mahlzeit zu
bereiten. Allein schon das Anzünden eines dergleichen Herdes
vorderte einiges; Goverts Mutter hatte in einer Arbeiterbaracke in
Deutschland das Leben dabei verloren. Solch ein Herd diente
selbstverständlich auch um den Wohnraum zu heizen. Trotzdem
wurde oft Kälte gelitten, wobei kam dass eine Wohnung feucht sein
konnte. Manch einer hatte dann auch Rheuma. Und da war zur
Zeit kaum etwas gegen zu machen.
Traudchen hatte sechs Söhne die unterirdisch arbeiteten. Sie
hatten unterschiedliche Wechselschichten. Das bedeutete dass
Traudchen öfter als ein Mal am Tag eine Mahlzeit kochte, und
zwar: wirklich kochte – Fertiggerichte gab es gar nicht, Konserven
aus dem Laden gab es kaum (für eine Arbeiterfamilie). Fussböden
mussten auf den Knien geschrubbt werden, Teppiche wurden
hinaus getragen und mit einem Teppichklopfer in Angriff
genommen. Und so weiter und so weiter und so weiter. Das Haus
hatte vorne, hinten und an einer Seite einen grossen Garten. Der
war voll Gemüse und Blumen. Gemüse – und Früchtchen, wenn es
die gab – wurden für den Winter eingemacht. In diesen Sachen
war Traudchen zumindest eine treibende Kraft. Von Zeit zu Zeit
musste tapeziert werden – vorzugsweise eine Arbeit für Traudchen.
Oft musste Kleidung geflickt werden. Traudchens Nächte waren
oft kurz, tagsüber sass sie manchmal kurz zu schlafen. “Jetzt, wo
mein Mann pensioniert ist, habe ich nicht mehr soviel Arbeit, aber
früher war ich oft bis zwei Uhr in der Nacht auf den Beinen. Um
fünf Uhr musste ich wieder aufstehen um diejenigen die Tagschicht
hatten zur Tür hinaus zu helfen”, erzählte Traudchen einem
Reporter in 1957. Mit “zur Tür hinaus helfen” meinte sie
wahrscheinlich dass sie ihren Josef oder ihre Söhne weckte und
Koffee für sie kochte.
Traudchen zeigte wenig Selbstmitleid. Ich, wenigstens, habe
sie wenig über sichselbst jammern gehört. Für Oma war es
selbstverständlich, dass ihr Leben grösstenteils zu Diensten stand
derer die ihr lieb waren. Um nicht missverstanden zu werden: auch
Opa war kein Faulpelz und er achtete Arbeit im Haushalt nicht
männerunwürdig. Glücklicherweise gönnte Oma sichselber auch
kleine Vergnügen. Zu den mehr alltäglichen gehörten Besuche an
ihre Kinder – die lebten mit ihrer Familie in einem Umkreis von
knapp vier Kilometer – und das Lesen von Büchern. Die Bücher
waren, wenn ich nicht irre, romantischer Art. Eine fahrende
Bibliotheke brachte sie ins Haus. Wenigstens für uns, Kinder,
spannender waren die deutschen Klatschwochenblätter die Oma in
späteren Jahren von Bekannten erhielt. Auf allzu pikanten
Frauenfotos bedeckte Oma mittels eines Kugelschreibers die
Brüste.



Zwei Herzen nicht immer eine Seele
Sex war für Oma, sowie für die meisten ihrer Generation, kein
Thema worüber man sich unterhielt – nicht im positiven Sinn und
auch nicht im negativen. “Über Gefühle wurde sowieso wenig
gesprochen”, erklärte ihre Tochter Caroline mir mal. Ihr Sohn
Adriaan erinnert sich jedoch einen Vorfall aus seiner Kindheit.
Wir schreiben Ende dreissiger, Anfang vierziger Jahre. Die
Armut ist gross, die Familie hat bereits sieben oder acht Kinder.
Dem Govert genügt es. Der Traudchen vielleicht auch. Der
ehrwürdige Herr Pfarrer, der selbst keine Kinder hat, findet jedoch
dass man es dem lieben Gott nicht zu schwierig machen darf wenn
Er andere Pläne hat. Der Priester ist schon nicht davon begeistert,
da Govert sich wenig in der Kirche blicken lässt. Goverts
Schwiegermutter teilt seine Sorgen; sie verweilt jedoch jenseits
der schützenden Landesgrenze. Dem Pfarrer, der die Familie immer
wieder besucht, macht der Vater des Hauses einen Vorschlag. “Ich
habe keine Zeit, um regelmässig zur Messe zu kommen”, erklärt er
ihm, “ich muss nunmal sehr viel arbeiten. Wenn Sie jedoch eine
Schicht von mir übernehmen, gehe ich in die Kirche!”
In dieser (römisch-katholischen) Kirche wurde gepocht auf
das erzeugen von Kindern. Verhütungsmittel waren vom Übel; sie
waren auch nicht erhältlich. Periodische Enthaltsamkeit wurde mit
Mühe zugelassen. Wenn es aber Sex gab, sollte dieser 'komplett'
sein. Govert war anderer Meinung; er wollte 'vor dem Singen die
Kirche verlassen'. Seine Frau dagegen war davon überzeugt, dass,
wenn man es machte, man es richtig machen sollte. Das brachte
Reiberei. Die Spannung wurde zu einem gewissen Zeitpunkt so
hitzig, dass Govert der Traudchen an die Gurgel sprang. Söhnchen
Adriaan sprang ihm von einem Stuhl in den Rücken. Sein Vater
schleuderte ihn von sich, gegen eine Wand. Der Bub verlor kurz
das Bewusstsein. Seine Mutter hatte aber die Gelegenheit genutzt
um sich zu erholen.
War Govert aggressiv? Die Antwort läutet bestimmt: nein. Govert
konnte scharf sein, aber er schlug seine Frau und Kinder nicht.
Genauso wie seine Frau war er sanftmütig von Charakter. Nach
seiner Pensionierung half er seine Frau im Haushalt. Auch für
andere war er stets hilfsbereit. In meiner eigenen Erinnerung lebt
er als ein freundlicher, ruhiger Mann im Hintergrund. Er sagte
wenig; er genoss in Stille die klassische Musik die das Radio ihm
brachte. Sein jüngster Sohn Paul und seine Frau Maria haben
jahrelang bei Oma und Opa zur Untermiete gewohnt. Sie sind
davon überzeugt, dass die beiden sich geliebt haben.
Traudchen liess ihren Kindern alles zu. Wenn eines ihr
fürchterlich zum Hals raus hing, zog sie ihm wohl mal am Arm,
wie: 'Lass das sein, höre nun zu!' Sie würde nie einen Schlag
versetzen. Onkel Adriaan: “Wenn Vater von der Arbeit kam,
schlief er am Tisch ein. Er war dann auch immer an der Arbeit, er
hatte keine Zeit um mit seinen Kindern zu spielen. Es passierte
öfters, dass, wenn er am Ende einer schweren Schicht nach Hause
wollte, sein Vorgesetzte sagte: 'Dieser oder jener hat sich krank
gemeldet'. Und dann musste Vater nóch eine Schicht arbeiten.” Es
konnte auch geschehen, dass Govert sich gerade hin gelegt hatte
um aus zu ruhen, wenn die Bergwerkspolizei erschien. Und dann
musste er mit zurück in den Betrieb. Was wir 'Ferien' nennen, hatte
er nie. Er hatte höchstens mal einen extra freien Tag. Dass so ein
Mann gereizt wird, ist begreiflich. “Vater war als er arbeitete
immer etwas gespannt”, sagt Onkel Adriaan. “Er hat viel zu hart
gearbeitet”, erläutert seine Frau Corrie. Govert trat im Betrieb
nicht für sichselbst ein. Viel zum Wählen hatte er übrigens nicht.
Wenn es einem nicht gefiel, wurde gesagt: “Für dich stehen zehn
andere bereit!”



Briefe von über der Grenze
Mit ihren Eltern und Geschwistern, in etwa zehn, fünfzehn
Kilometer Entfernung, hat Traudchen hauptsächlich mittels Briefe
kontakt unterhalten. Sie sah sie nicht oft; in und kurz nach dem
Krieg sah sie sie kaum oder gar nicht. Leider räumte ihr Gatte
gerne auf. Eín mal konnte sie ihm bei ihrer Heimkehr gerade noch
die letzten Briefe ihrer Mutter aus den Händen reissen: Govert war
alle 'alter Krempel' am verbrennen. Die zwölf geretteten Briefe
sind aus den Jahren 1937-1947. Es schimmert etwas darin durch
vom Familienleben. Hier folgen einige Passagen. Sie sind
buchstäblich, also mit Behalt von Schreib- und Sprachfehlern:
(16. März 1937) Wir wünschen euch liebes Traudchen und
Josef viel Glück und Segen zum Namenstage. Immer denke ich an
dich armes Traudchen wie du dich zurecht findest bei der großen
Kinderzahl. Ja 6 Kinder die haben was nötig. Ich weiß es ja von
früher als ihr noch alle klein waret. Man muß aber sich vom
Schicksal, so nennen es die Ungläubigen, nicht unterkriegen lassen.
Wir Katholiken nennen es Gottes Prüfungen. Darum nur nicht
verzweifeln. Gott hat noch immer geholfen. Ich bete immer für
euch. Rufe nur fleißig den h[ei]l[i]g[en] Josef an. Er hilft uns
immer. (…) Freitag feiern wir das Fest des h[ei]l[i]g[en] Josefs.
Bete an diesem Tag doch den Rosenkranz Abens mit den Kindern
für deinen Mann. Du weißt ja wofür. Der h[ei]l[i]g[e] Josef wirkt
auch heute noch Wunder. (…) Könntest du doch noch einmal
kommen mit [deiner ältesten Tochter] Maria. (…)
(19. Januar 1941) (...) Sehr viel Leid habe ich von dir, armes
Traudchen, daß du so viel mit Krankheiten heimgesucht wirst. Du
bist ja wahrhaftig in die Fußstapfen deiner armen Mutter
eingetreten. Ich will hoffen daß du aber auch wie ich nicht den Mut
verlierst und tapfer bleibst wie alle Deutschen sein müßten. Der
l[iebe] Gott und unser Führer wird uns nicht verlassen. Wenn du
hier wohntest bekämst du auch die Kinderbeihilfe. Leute die
arbeitsam und fleißig sind und ehrlich geht es ja bekanntlich immer
nicht gut. Danke Gott daß du so ein fleißiger Mann hast. Ich habe
es hier erzählt wie ihr euch trotz eurer großen Kinderzahl noch
immer so redlich durchgeschlagen habt. Ich freue mich so auf ein
Wiedersehen mit euch. Hoffentlich sind deine Kinder nicht so
verwildert wie hier die Kinder sind und auch fleißiger. Der arme
Matjö muß auch schon früh mitarbeiten. Ich habe aber auch
erfahren daß die feinen Dämchen die bloß eins wollen mehr mit das
eine auszustehen haben als andere die ein Haus voll Kinder haben.
Ich habe die Enkel von mir einmal diese Woche zusammen gezählt.
Gegenwärtig beträgt die Zahl 27. Nach einigen Monaten aber wird
sich die Zahl wieder um 3 erhöht haben. Unser Fritz, du und Trina
haben wieder Familienzuwachs zu erwirken: Fritz im März und
Trina im Sept[ember] das 9. Das kleinste von Trina ist jetzt 11
Monate [und] läuft noch nicht allein. Hauptsach: unser Herrgott
hat uns noch nicht verlassen. Du bist immer so gut mit uns
gewesen. Könnte deine arme Mutter dich doch auch einmal
beistehen. (…)
(24. September 1941) Wünsche dir l[iebes] Traudchen viel
Glück und Segen mit deinem Söhnchen. Dieses Jahr kommen fast
alles Jungen. Unser Trina hat am 23. August auch ein Junge
bekommen. Unser Fritz und Michel seine Frau waren Taufpathen.
Sie nennen ihn Adolf. (…) Ich war vom 4. September bis 16. Sept. in
Oidtweiler, wo ich sehr schöne Tage erlebte. Der erste Gang war
zum Friedhof und in die Kirche. Ja da habe ich mit Verwunderung
gesehen wie die Zahl der Gräber sich vermehrt hatte seit
Allerheiligen. Besonders eine ganze Reihe Kindergräber von 4, 5,
6 und 3 Jahre waren da. Von Odenkirchen Nella Danker – die
kennst du ja – liegen 2 neben einander: 1 Mädchen von 14½ und
1 von 9½ Jahre waren in 2 Wochen tot, ein liegt noch im Spital.
Hier hat der [...vom Zensor unleserlich gemacht...] Hier sind die
Kinder noch Gott sei Dank alle gesund. Ich hörte von Michel du
hättest Bescheid geschickt wir sollten mal an die Grenze kommen.
Wie gerne ich euch noch einmal sähe, ich bin nicht dazu im Stande.
Soll unser Maria oder anders jemand mal kommen. Den Tag und
die Stunde kannst du bestimmen und auch wo. (…) Was mach Mija
und Matjö noch, ist Karlinchen schon aus der Schule entlassen.
Wäre der Krieg doch zu Ende, daß wir uns wiedersehen könnten.
(…)
(8. Oktober 1942) (…) Man hat hier erzählt die Engländer
hätten ganz Eigelshoven dem Erdboden gleichgemacht. Was das für
mich war könnt ihr denken. 4 Bergwerke wären am brennen. Es
wird ja immer viel gelogen. Als ich so schwach krank war hatte ich
mich im Kopf gesetzt weil so viele Leute krank waren die Engländer
hätten das Gediente vergiftet. Allerhand Märchen werden erzählt.
Wir wollen hoffen, daß der l[iebe] Gott uns noch den Sieg erleben
läßt und wir ein frohes Wiedersehen feiern können und zwar in
unserer Heimat. (…)
(14. März 1944) (…) Fritz ist eingezogen. Ich konnt ihn immer
mein Leid klagen. Jetzt muss ich alles allein tragen. (...)
(1. April 1946) Endlich einmal nach so langer Zeit wieder ein
Lebenszeichen von Oma. Will euch zuerst einmal fragen wie ihr
durch den Krieg gekommen seid. Ich glaube nicht, daß ihr so viel
ausgestanden habt als wir arme Deutsche. Der Gott der Deutschen
ist uns wie ihr alle wißt uns zum schweren Verhängniß geworden,
der hat uns ins tiefste Elend gestürzt. Jetzt wo er tot ist können wir
es wenigstens noch einmal aussprechen. (…) Am 16. Mai werde ich
77 Jahre. Könnten wir uns doch noch einmal sehen. Maria war vor
zwei Jahren einmal an der Grenze gewesen, hat dich aber nicht
getroffen. (…)
(5. Januar 1947) (…) In der Zeitung steht wir könnten Briefe
ins Ausland schicken, 100 Gramm. Auch das Ausland darf die
Briefe hierhin senden. Das Papier und Briefumschläge ist hier
nirgens zu haben. Es würde mich sehr freuen wenn du mich einige
Kouverts und einige Bogen Papier, einige Umschläge schicken
könntest. (…)
(22. Dezember 1947 – Dieser Brief ist aus der Hand von
Maria, Traudchens älteste Schwester.) (…) Die Grenze ist offen,
kommt nach hier, wie freue ich mich, kommt doch Weihnachten
nach hier oder Neujahr. Wir werden dann tüchtig zusammen feiern,
dann werden wir froh und glücklich zusammen sein, kommt,
kommt! (…) Kommt doch, unser Mütterchen und auch wir freuen
uns auf euer kommen. Kann Josef nicht mitkommen? Und
Karoliene, Maria und die andere Kinder. Das gäbe ein Halo. Ich
bin darauf gerichtet. Das Fett fehlt, sonst haben wir alles.
Plätzchen, alles haben wir genug, blos Schincken und Speck fehlt,
aber das macht der liebe keinen Buckel. Die Hauptsache ist die
Grenze ist für euch auf, der Komandant hat gesagt es dauert nicht
lange dann können wir euch auch besuchen kommen. (…) Nun hört
ihr mein heimliches Rufen, kommt nach hier, ich habe euch viel zu
erzählen, sehr viel wenn man sich so lange nicht gesehen hat. Also
Weihnachten sonst kommt Silvester und Neujahr. (…)

Urgrossmutters Briefe vermitteln manchmal einen erschütternden
Blick in die Alltäglichkeit unserer Existenz. Sie waren nunmal
nicht für Veröffentlichung vorgesehen und würden, nach Erwartung,
nur von der Zensur und Traudchen gelesen. Sie brauchten also nicht
herausgeputzt zu werden. Wenige Sätze nachdem Karolina Herten-
Kahlen erzählt hat wie sie evakuiert gewesen war, Sohn Franz vor
seinem Hause getötet worden war, Schwiegertochter Annchen und
ihr Sohn Helmut einer Krankheit erlegen waren und (Urgross-
mutters) Sohn Fritz an der Ostfront gefallen war, seufzt sie:
“Bekämen wir alte doch wenigstens etwas Kaffee. Das würde einen
gut tun, eine Tasse Kaffee. Der wird bei euch sicher nicht mit so
furchtbaren Preisen bezahlt wie hier.” Und weiter geht's, mit
Verwüstungen, der Geburt einer Enkeltochter und dem Tode
Geliebter. Sohn Fritz hiess in Russ land gefallen zu sein (in
Wirklichkeit war es, am 14. Januar 1945, beim polnischen Radom).
Er war fast neun Jahre jünger wie Traudchen. Ihr Bruder Franz war
fünfzig als er, am 27. September 1944, in Baesweiler von Granatsplittern
gefällt wurde.



Dunkele Seiten
Oma hatte ein grosses Fotoalbum mit dunkelen Seiten, worin ihre
Teueren ein Plätzchen bekommen hatten. Es enthielt sowohl Fotos
als auch Postkarten. Einige Bilder zeigten Bruder August oder
Franz in Soldatenuniform. Sie waren aus dem 1. Weltkrieg. Franz
ist da wahrscheinlich an heissen Stellen gewesen. (August erwähnt
es auf einer Karte an Traudchen.) “Mein lb. Bruder Franz”, hat
Traudchen unter seinem Bildnis geschrieben; sie hat ihn wirklich
geliebt.
Karolina Herten-Kahlen erzählt in einigen Briefen von ihm.
Hier kommt eine Passage vom 31. Dezember 1941. Bin die
Feiertage in Baesweiler und Oidtweiler gewesen. Sieben Tage
war ich da, aber die Freude die ich da gehabt sind nicht zu
beschreiben. Wir haben noch einmal alte Erinnerungen
ausgetauscht aus eurer Schulzeit. Und unsere Jungen haben mich
noch mal alles aus dem Weltkrieg erzählt, besonders aus Rußland.
Hier in die Bergmanns Gegend opfern die armen Leute alles.
Ja,sagt unser Franz, als ich hier mit die Liste rundging kam ich in
vielen Famielien wo die Leute alles hergaben, selbst arme Frauen
gaben ihre Pelze wo sie doch wußten, daß sie nie mehr einen
neuen kriegen. Ja Deutschland kann nicht untergehen. Aber in
Baesweiler sind auch einige Famielien reicher Leute, die hätten
gesagt wir haben nichts. Solche Menschen müßten an den
Pranger gestellt werden die kein Mitleid haben mit unsren
Soldaten. Wie wir[d] unser Herrgott denen auch mal heranholen
und sagen für euch habe ich nichts!





Ein anderes Bild in Traudchens Album zeigte ihre Schwester
Therese, die in ihrem neunzehnten Lebensjahr gestorben war. Als
Kind begriff ich, dass sie bei einem Bauer arbeitete und dort an
einem heissen Tag im Keller eiskalte Milch getrunken hatte. Ihr Blut
hätte sich dadurch in Wasser gewandelt. Auf dem Foto stand sie mit
einem Lächeln, in ihrem schwarzen Kommunionskleid mit weissem
Schleier, ein Gebetbuch in ihrer Rechten, auf ihrem Kopf etwas wie
ein Blumenkranz. Auf wieder einem anderen Bild posierte die
elterliche Familie, bereits ohne Therese, aber noch mit Josef. Josef
hatte sich bei einem Fall von einem Sandberg einen Buckel geholt.
Das Foto wurde Mitte 1929 gemacht. Im Jahre darauf ist Josef
dahingeschieden. Eín Foto zeigte ihn in seinem Sarg.
Die Fotos faszinieren mich immer noch. Sie vergönnen einen
Blick in eine vorbeie Welt woraus ich offensichtlich zum Teile
stamme, die mir jedoch in Wesen fremd ist. Ich fühle sowohl
Verbundenheit als auch Abstand, und letzteres vielleicht mehr als
wenn ich zum Beispiel niederländische Familienporträts sehe. Das
ändert nichts daran dass ich von Kindesbeinen an – Omas Bilder
und die Geschichten die sie dabei erzählte haben dies sicherlich mit
bewirkt – Gefühl gehabt habe für das deutsche Leiden während des
2. Weltkrieges. Ich feilsche in keinerlei Weise etwas von der
Verbrecherischkeit des Naziregimes, aber es tut mit weh wenn ich
Leute leiden sehe, vor allem wenn nicht deutlich ist dass sie bewusst
und aus freiem Willen für dieses unterdrückende, mörderische,
räuberische und Gehirnwäsche unterziehende Regime gestanden
haben. Dass jemand Deutscher ist und vielleicht auch noch Soldat,
ändert nichts daran.


Verfremdung
Traudchens Lebensgefährte und Kinder haben die Verfremdung
ebenfalls gefühlt. Ich habe immer gestaunt, wie begeistert meine
Onkel davon erzählten, wie sie als Kind einen Abfallberg der
Kohlenzeche bestiegen um sehen zu können wie die Alliierte am
Ende des Krieges das benachbarte Deutschland bombardierten und
wie der Kram dort lichterloh brannte. Mit derartigen enthusiasten
Geschichten kamen sie auch nach Hause. Traudchens Söhne
schwärmten für die Befreier, die sich um das Dorf herum gelagert
hatten. Eíner von ihnen brachte einem amerikanischen Militär Stro
zum Schlafen und bekam aus Dank eine grosse Wanduhr und eine
Uhr in Form eines Pferdes mit Tintenfasses.....die aus einer
Wohnung in Deutschland mitgenommen waren. Sie prankten
jahrzehntelang im Wohnzimmer meiner Grosseltern. War das nicht
eigenartig? Oma stammte schliesslich aus Deutschland. “Ach, die
Deutschen hatten selber sovíél geraubt!”, beantwortete mein Vater
die Frage in 2001. 36 Jahre zuvor, als Kronprinzessin Beatrix sich
mit einem Deutschen verloben wollte, hatte man in der Familie
darüber diskutiert, ob sie daran gut täte. Mein Vater hatte den
späteren Prinzgemahl bei seinen Brüdern verteidigen müssen: der
Mann wäre unter dem Hitlerregime zu jung gewesen um ohne
weiteres für Kriegsverbrechen mitverantwortlich gemacht zu
werden können.
Ich habe meine Eltern in 1995 befragt nach ihren Gefühlen
bezüglich des deutschen Leidens. – Meine Mutter kam aus einer
ähnlichen Situation. – Was empfanden der junge Mathieu Schoormans
und die junge Ketie Hermans als Aachen unter Feuer genommen wurde?
“Das gefiel uns”, antwortete mein Vater. Dort lebte doch Familie!?
“Von uns nicht”, gab er zurück. “Übrigens, daran dachten wir nicht.
Oma vielleicht schon, aber die redete nicht darüber. Man war
immer damit beschäftigt, um sich Nahrung zu beschaffen. Wir
hassten die Preussen: wir hatten sie marschieren sehen. Abends
musste der Kram verdüstert werden und durfte man nicht nach
draussen. Man musste andauernd auf seine Worte achten. Bei einem
Streik sind Bergarbeiter willkürlich erfasst worden und erschossen.
Man wurde geschindet, während Preussen eine Sonderbehandlung
genossen. Am Ende fürchteten wir uns auch noch vor Arbeitseinsatz
in Deutschland.”


Bei meiner Mutter erweckten meine Fragen noch heftigere
Emotionen. “Auch bei uns ist eine Bombe gefallen”, erzählte sie,
“es gab vierzehn Tote.” War es eine deutsche Bombe? “Nein, eine
englische.” Das Viertel in dem meine Mutter lebte (Bleijerheide,
Kerkrade) ist im September 1944 evakuiert worden. Es geschah auf
Befehl deutscher Behörden. Dennoch wurde unterwegs auf die 25
tausend Evakuierten geschossen.....von Deutschland aus. Wiederum
vielen vierzehn Tote. Meine Mutter sah die Leichen noch vor sich,
sowie sie auch die jüdische Familie Keller-Levi sah. Die lebte um
die Ecke und war eines Tages abgeführt worden. Ein Polizist aus
der Nachbarschaft hatte assistiert. Mann, Frau und Söhnchen waren
sofort von einander getrennt worden, dem Hund der Familie hatte
man einen Fusstritt gegeben. Frau Keller hatte es aufgeschrien.
Meine Mutter war nach Hause gerannt und hatte sich den ganzen
Tag ergeben. Nein, was meine Eltern betrifft hätte man die 'Preussen'
ruhig platt werfen dürfen; sie hatten schliesslich massenhaft mit dem
Arm gehoben gestanden!
Oma selber habe ich leider nie über ihre Gefühle befragt.
Unaufgefordert gab sie jedoch an, dass sie sich Niederländerin
gefühlt hatte und deshalb geweigert hatte der deutschen
Besatzungsmacht um extra Nahrung zu bitten, was ihr als 'Reichsdeutsche'
zweifelsohne gestattet wäre. Ihr Mann wollte sowieso
nichts von den Deutschen wissen. Er hörte verbotene Sender und
drohte das Radio lauter zu stellen wenn Traudchen sich darüber
allzu sehr beunruhigt zeigte.
Es war eine besonders schwierige Zeit. Den Hungertot drohte
man nicht zu sterben (das war in der Gegend nicht) und die Arbeit
in der Zeche ergab etwas extra – sie war schliesslich aussergewöhnlich
schwer únd (in den Augen der Behörden) lebenswichtig – aber
Hunger hatte man schon. Und dann war es extra unangenehm wenn
man die nacht im Luftschutzkeller verbringen musste, was wegen
der Bombardementsflüge sehr regelmässig der Fall war. Die Flüge
galten zwar Deutschland, aber Bomben konnten gewollt oder
ungewollt auch auf niederländischem Boden fallen, wie unter
anderem im Juli 1941 geschah. Sieben Bürger kamen dann mitten
in Eijgelshoven ums Leben, fünf von ihnen in einem Keller. Die
Familie Schoormans-Herten soll mal das Erstaunen ihrer Nachbarschaft
erregt haben weil sie sich nach einem Luftangriff noch in
Leben erwies. Sie hatte im Keller nicht bemerkt, dass vom
Luftdruck das Dach ihres Hauses abgerissen war. Das Dach lag jetzt
auf der Strasse. Dieses zumindest will die Geschichte, die manches
Mal erzählt wurde.
Bei der Familie Schoormans in der Nähe wohnte manch einer
mit deutschen Wurzeln. Dass einer Deutscher (gewesen) war,
machte ihn in den Augen seiner Mitbürger nicht unbedingt zum
Aussenseiter, sogar nicht wenn er irgendwo Wache lief. Die
Besatzungsmacht konnte einen nähmlich dazu verpflichten.
Traudchen brauchte sich auch nicht ausgeschlossen zu fühlen. Die
Knappheit an alles Mögliche bot ihr vollauf Gelegenheit um ihre
Findigkeit zu beweisen. Das machte sie auch. Sie konnte, zum
Beispiel, aus einem Ei einen vollen Topf machen. Aus Heckenblättlein
konnte, glaube ich, Tabak gemacht werden. Für wen sich
nach Kaffee sehnte, liess sich ebenfalls etwas einfallen. Dennoch
konnte es passieren, dass Traudchens ältester Sohn seiner Mutter
eines Tages in aller Frühe auf der Strasse begegnete. Er kam von der
Arbeit. “Was machst du hier?” Seine Mutter genierte sich. Sie war
auf dem Wege zum Pfarrer, der ihr Geld für ein Brot schenkte.




Tagebuch
So kam die Familie, die allmählich komplett geworden war, durch
den Krieg. Für das Land brach eine Zeit an von Wiederaufbau,
Govert und Traudchen mussten sich für wenig Geld abrackern
bleiben. In 1955 wurde Govert pensioniert. Sechs Jahre später
erhielten seine Frau und er ausserdem staatliche Rente. Ihre
Einkünfte waren und blieben zwar (sehr) niedrig, aber Traudchen
und Govert hatten wenigstens, als alte Leute, Recht auf ein
regelmässiges Einkommen – und das war für Arbeiter ziemlich neu!
“Vuur hant ut jòt!” (“Wir haben es gut!”), soll Traudchen manchmal
bemerkt haben. Traudchen war nicht besonders verwöhnt; sie
verlangte wenig für sichselbst.
Ab ungefähr 1956 führte Traudchen ein 'Tagebuch', wie sie es
nennte: 'Mutter Schoormans Dagbuck'. 'Tagebuch' ist vielleicht ein
teueres Wort für 'Kassenbuch': Oma notierte vor allem was sie
ausgab, das Geld das sie auslieh und die Geschenke die Opa und sie
bekamen. Gelegentlich erwähnte sie die Geburt oder die Taufe eines
Enkelkindes. Oma und Opa hatten zum Schluss achtzehn Enkel.
Omas Notizen sind kurz und ohne Emotion. Eine der
ausführlichsten ist folgende: “In der nacht vom 12 bis 13 Oktober
[hinzugeschrieben: In 19.69] hatt Ton von unse Franz eine 6
Monatliche Schwangerschaft beendet mit der Geburt eines
Töchterchen mit ein Beinchen Tood geboren”. Die Notizen sind –
manchmal sogar auf der selben Seite – nicht in chronologischer
Reihenfolge. Oma scheint ihr 'Tagebuch' willkürlich geöffnet zu
haben und ihren Bericht hingeschrieben zu haben wo gerade Platz
war.


“Wenn man auf den Tod wartet.....”
“Im Oktober war meine Schwester Maria schwer erkran[k]t.” Diese
Mitteilung ist zu finden am Ende der Seite mit dem Bericht von der
Fehlgeburt. Wenn ich von Oma etwas gelernt habe, ist es dass wir
nicht wissen in welcher Reihenfolge wir gehen. Ich höre sie nóch
mit einer Schwester überlegen was sie anziehen würden bei der
Beerdigung ihrer Schwester. Die Schwester war übel dran und
würde bald sterben. Nun, diese Schwester war Maria, das älteste
Kind der Familie Herten-Kahlen. Die Schwester mit der Oma
überlegte, muss Katharina gewesen sein. Sie starb in 1971 in ihrem
69. Lebensjahr. “Jetzt bin ich eine alte Schachtel – 77 Jahre”, hatte
Maria im Jahre zuvor an Traudchen geschrieben. “Am 25.2. werde
ich 80 Jahre alt. So alt wird kein Schwein”, liess sie drei Jahre später
lustig wissen. Sie haben es bereits kapiert: als Maria im Alter von
86 Jahren starb, lag Oma schon dreieinhalb Jahre auf dem Friedhof.
Diesen Friedhof habe ich als Kind oft mit Oma besucht.
Unterwegs pflückte sie Blumen. “Warum ziehen Opa und du nicht
in ein Altersheim?”, fragte ich ihr einmal. “Junge”, antwortete sie,
“wenn man auf den Tod wartet, kommt er bald!” Trotzdem ist es so
weit gekommen. Den Grund enthüllt die Kladde eines rührenden
Briefes an Omas oidtweiler Schulkameradin Maria Schlebach.
Waubach 10 März [1975]. Beste Freundin. Lange hab ich nicht
geschrieben es wird immer aufgeschoben aber ich vergesse dir
doch nicht. Ich hab einen Monat im Krankenhaus gelegen. Dann
sind wir am 6. Januar zum Alterheim hier in Waubach gangen.
Josepf machte mir soviel Arbeid alle Tage hatt ich gnug zu
waschen. Das Haus war zu groos und zu kalt und wir sind ja beide
schon alt Josepf 78 Jahr und ich [bald] 76. Dann kann man nicht
mehr viel machen. Wir kriegen von der Krankenkaße eine Karte.
Dann laß ich mir mal nach Oidtweiler bringen. (…)
Anderthalb Jahre zuvor schon hatte Oma ihrer Schwester
Maria einiges berichtet. Hopel 18 September [1972]. (…) Seit
Freitag bin ich zu Hause. beina 6 Wochen bin ich im Spital in
Kirchrad gewesen. ich war sehr schlim krank. ich hat biginn von
gelbe Farbe der Zucker zu hoch und Gaal enzündung. eine Woche
hab ich allein gelegen. Ich darf so wennig essen dann kann es noch
eine Zeit dauern eh ich noch mal richtig auf die Beine bin. Wir sind
noch da und denken es geht alles vorüber. Unser Vater sagte Kopf
hoch wenn es auch Schwerfält. (…) Ich darf nicht arbeiden ein
bischen kochen und speulen. Unser Karlin komt mir helfen. bei uns
ist keine schwere Arbeit. Und hoffen auf ein baldiges Wiedersehen.
(…)
Oma geriet manchmal ins Spital wenn sie sich nicht an ihr Diät
gehalten hatte. Sie hatte Zucker und injizierte sich jahrelang dafür.
Drei Monate bevor Oma und Opa ins Pflegeheim zogen, hatten sie
ihre goldene Hochzeit gefeiert. Für Opa war das vielleicht nicht
nötig und er kriegte nicht alles mehr mit, aber Oma hatte sich riesig
danach gesehnt. Es war ein grosses Fest geworden, das vorangegangen
war von einer heiligen Messe. Ein Bildbericht zeigt eine
stralende Oma im Mitten ihrer Verwandten. Ihre Schwester Maria
war mit dabei. Die nächsten grossen Familientreffen würden
weniger festlich sein. Als ich Oma das letzte Mal sah, lag sie mit
verwildertem Blick in einem Krankenhausbett. Sie starb, umringt
von ihren Kindern, zwei Stunden nachdem sie 77 geworden war.
Am 25. März, ihrem Namenstag, sahen wir vom Bus der uns zum
Friedhof gefahren hatte wie Oma zu ihrem (und Opas) Grab
gefahren wurde. Es war, wie ein Neffe von mir bemerkte, eine sehr
besondere Frau von uns dahingeschieden.





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